Auf meiner Recherchetour rund um wertschätzende Unternehmenskultur bin ich Herbert Wittemer begegnet. Herbert Wittemer ist Personalleiter der msg systems ag, einem Unternehmen aus der IT-Branche mit über 7.500 Mitarbeitenden. Er hat die früher demotivierenden Mitarbeitergespräche komplett umgekrempelt und motivierende, gewinnbringende Gespräche daraus gemacht.

 

Lieber Herr Wittemer, Sie haben die Mitarbeitergespräche in Ihrem Unternehmen revolutioniert. Was war die Ausgangssituation? Weshalb wurde diese Veränderung notwendig?

Herbert Wittemer: Gerade als Entwickler und Anbieter von Software-Systemen müssen wir attraktiv für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein. Wir wachsen so stark, dass es unsere größte Herausforderung ist, neue Kolleginnen und Kollegen zu finden. Bewerber sind anspruchsvoll. Sie haben die Auswahl zwischen vielen Stellenangeboten. Das ist ein hart umkämpfter Markt und wir wollen ein attraktiver Arbeitgeber sein. Da kommt alles auf den Prüfstand.

In der Vergangenheit hatten wir die klassischen jährlichen Personalgespräche mit den typischen Bewertungsbögen. Verschiedene Skills, sowohl fachliche als auch Soft Skills, sollten auf einer Skala von — bis ++ bewertet werden. Auch wenn das Gespräch vorher gut lief, kippte die Stimmung, sobald der Bewertungsbogen gezückt wurde. Da gingen die Vorstellungen oft auseinander. Es entstand ein Ringen um die Bewertung. Das Ausfüllen dieses Bogens war ungeliebt. Immer mehr haben gesagt: „Das lasse ich weg.“

Das war der Anlass für mich erst einmal zu recherchieren. Ich wollte wissen, was wir eigentlich mit diesen Informationen machen. Das Ergebnis war ernüchternd oder auch erfreulich: faktisch NICHTS! Vielleicht wurde ab und zu mal eine Schulung abgeleitet. Es zeigte sich, dass dieser Bewertungsbogen wenig Nutzen bringt aber viel Frustration.

Was haben Sie geändert?

Herbert Wittemer: Wir haben den Bewertungsbogen komplett abgeschafft und ganz andere offene Gespräche eingeführt. Gleichzeitig hat sich unser Fokus umgedreht; weg von den Schwächen hin zu den Stärken. Wir versuchen nicht mehr die Schwächen abzubauen, weil das nachgewiesenermaßen nichts bringt, sondern schauen jetzt nur noch auf die Stärken.

Unsere Führungskräfte haben nun für diese neue Gesprächsführung einen Leitfaden mit Fragen, die die Stärken erkunden: Was sind deine Stärken? Wo hast du Erfolg? Wo bekommst du Beifall? Welche Arbeit fällt dir leicht? Bei welcher Tätigkeit verfliegt die Zeit im Nu? Diese Stärkenorientierung ist sehr positiv.

Es gibt ein Standardwerk für Stärken, den Clifton StrengthsFinder. Ich habe 5.000 Bücher gekauft und allen ein Buch nach Hause geschickt mit einem Brief: „Wir ändern das Mitarbeitergespräch komplett und ihr könnt hier eure Stärken herausfinden.“ Der Clifton StrengthsFinder enthält etwa 170 Fragen und am Ende kommen die Stärken zum Vorschein.

In unregelmäßigen Abständen führe ich Gespräche mit interessanten Menschen, die einen Beitrag rund um das Thema wertschätzende Unternehmenskultur leisten können. Hast du Interesse, darüber informiert zu werden, sobald ein neues Interview oder spannender Beitrag zu diesem Themenbereich veröffentlicht wird?

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Wie hat sich das ausgewirkt?

Herbert Wittemer: Das Ergebnis nach der Umstellung hat uns bestätigt. Mitarbeitende sagen: „So ein tolles Gespräch habe ich noch nie geführt“ und Führungskräfte sagen: „Ich kenne meinen Mitarbeiter schon seit 10 Jahren. Ich habe ihn noch nie so gut kennengelernt, wie jetzt in diesem Gespräch.“

Ich habe da eine Anekdote aus meiner eigenen Geschichte. Beim ersten Mitarbeitergespräch nach dem neuen Ansatz mit meiner Assistentin, habe ich mich vorbereitet und überlegt, welche Stärken sie hat. Sie hat das für sich auch gemacht. Wir haben unsere Überlegungen ausgetauscht und fanden eine große Übereinstimmung. Sie war total überrascht, wie gut ich sie kenne und hat sich sehr darüber gefreut.

Im gesamten Unternehmen versuchen wir jetzt immer mehr, die Aufgaben passend zu den Stärken zu finden. Mit dem Wissen aus dem Stärkeneinsatz achten wir dann beim nächsten Projekteinsatz auf bessere Übereinstimmung.

Die Stärkenorientierung hat auch dazu geführt, dass Mitarbeitende gekündigt haben, weil ihnen bewusst wurde, dass sie etwas ganz anderes machen sollten. Das habe ich dann auch als Vorwurf geerntet, dass ich mit meinem Stärken-Ansatz Mitarbeiter auf ganz neue Ideen gebracht habe. Bei genauer Betrachtung habe ich das wahrscheinlich nur beschleunigt oder die Mitarbeiterin/der Mitarbeiter wäre wegen latenter Unzufriedenheit in die innere Kündigung gegangen..

Früher haben die Führungskräfte eher Grenzen um ihre Einheiten gezogen und versucht, „ihre Schäfchen“ zu halten. Heute ist das offener. Eine Stellenausschreibungsplattform in unserem Intranet fördert interne Bewerbungen. Wir haben deutlich gemacht, dass es sogar erwünscht ist, sich intern zu bewerben.

Wie geht es weiter?

Herbert Wittemer: Wenn man davon ausgeht, dass sich die Stärken nicht jedes Jahr ändern, dann müssen wir die Gespräche weiterentwickeln. Im Vordergrund steht jetzt die Frage: Wie können die Führungskräfte durch den richtigen Einsatz und die richtigen Aufgaben die höchste Leistung und gleichzeitig die höchste Zufriedenheit erzielen? Da gehören dann z.B. solche Fragen dazu wie: „Was kann ich tun, liebe Mitarbeiterin, lieber Mitarbeiter, dass du deine Arbeit noch besser machen kannst?“ Das ist ein ungewöhnlicher Ansatz. Auch das muss erst einmal gelernt werden. Es geht darum, auf hohem Niveau tiefgründige Gespräche zu führen, und Freiräume zu schaffen. Außerdem achten wir jetzt verstärkt auf Teamstärken und werden diese ausbauen.

Es gibt immer wieder Veränderungen in Unternehmen und es gibt immer Widerstände. Wie sind Sie vorgegangen?

Herbert Wittemer: Mein Vorschlag war eine gravierende Veränderung in der Struktur, im IT-System und in der Haltung den Mitarbeitern gegenüber.

Ich habe in einem Führungskräfte-Meeting mit den 40 Top-Führungskräften erst einmal meine Idee vorgestellt. Auf einer PowerPoint war der alte Bewertungsbogen und ich habe ihn dick rot durchgestrichen. Auf der Tonspur habe ich von der neuen Idee erzählt und meine Begeisterung gezeigt. Ein Drittel war spontan begeistert, ein Drittel war neutral und ein weiteres Drittel war sogar dagegen. Einige brauchten dringend ihren alt bewährten Bewertungsbogen.

Nach dem Meeting habe ich mit den Befürwortern gemeinsam überlegt, wie wir das umsetzen können. Wir kamen z.B. auf die Idee, die Clifton-StrengthsFinder-Bücher zu verschicken. Manche Mitarbeitenden waren überrascht, dass sie so ein Buch nach Hause bekommen. Manche hätten sich eine Ankündigung gewünscht. Aber letztendlich haben alle mitgemacht und ihr Stärkenprofil erstellt. Einige sagen: „Das ist jetzt viel anstrengender. Ich muss mich auf das eigene Mitarbeitergespräch viel mehr vorbereiten und mir Gedanken machen, was ich eigentlich gut kann und auch was ich will.“ Unter dem Strich gibt es nur positives Feedback.

Wie ist die Kultur bei der msg systems heute? Bitte wählen Sie drei Bilder.

Herbert Wittemer: Wir neigen zur Hochleistungsorganisation, zum Leistungssport. Wir wachsen sehr stark, haben hoch gesteckte Ziele und wollen eine exzellente Organisation haben, die von den Prozessen her gut funktioniert und in der alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beste Performance bieten, indem sie in ihren Stärken arbeiten. Jeder soll an der richtigen Position sein und auch den Zweikampf nicht scheuen.

Wir agieren als eingespieltes Team und neue Kolleginnen und Kollegen werden an die Hand genommen und gut integriert. Diese Kollegialität, dieses gegenseitige Helfen und Vertrauen sind unsere stärksten Assets.

Die Schnecke: Dieses Bild ist selbstkritisch. Wir sind in manchen Themen noch zu langsam. Von der Idee bis zur Umsetzung, also zu ersten Gesprächen in der neuen Form, haben wir 18 Monate gebraucht. Da waren Veränderungen an der IT notwendig, aber auch Gespräch mit dem Betriebsrat. Insgesamt ist das viel zu lang. Wir wollen und müssen schneller werden.

Vielen Dank für dieses angenehme Gespräch, lieber Herr Wittemer. Das ist ein gutes Beispiel, das zum Nachahmen inspiriert.

Herbert Wittemer ist Personalleiter der msg systems ag. Seine Prinzipien sind „geht nicht, gibt’s nicht“, vor „<aber> steht die Lüge“ und „nichts ist wie es scheint“. Er bemüht sich, E-Mails nur innerhalb der üblichen Arbeitszeit zu versenden und gestaltet gerade sein Büro so um, dass es bei seiner Abwesenheit jederzeit von allen für Teammeetings oder Videocalls wie ein neutrales Besprechungszimmer genutzt werden kann.