Auf meiner Recherchetour rund um wertschätzende Unternehmenskultur bin ich Dr. Claudia Muth begegnet. Sie ist Dozentin für Wahrnehmungspsychologie an der Universität Bamberg und forscht zu den Themen Wahrnehmung und Ästhetik. Da unsere Wahrnehmung einen entscheidenden Einfluss auf unsere Kommunikation hat, wollte ich mehr über die Wahrnehmungspsychologie erfahren.
Liebe Claudia, was bedeutet dieses Forschungsgebiet? Was machst Du?
Claudia Muth: „In meiner Forschung beschäftige ich mich mit den Fragen: Warum setzen wir uns Mehrdeutigkeiten, Überraschungen und Widersprüchen aus, beispielsweise in der Kunst? Welchen Reiz übt diese Unsicherheit auf uns aus? Was gewinnen wir dadurch? Und insbesondere daraus abgeleitet: Was macht Ästhetik aus?
Ein gewisses Maß an Unsicherheit in Bildern finden wir interessant. Das Bekannte, Eindeutige kann manchmal langweilig sein. Wenn etwas im Unklaren bleibt, dann versuchen wir das Unklare aufzulösen und etwas zu erkennen. Manchmal sehen wir Zusammenhänge, manchmal lernen wir etwas über uns selbst. Darin liegt für uns ein ganz besonderer Reiz.
Es ist eine Herausforderung solche Prozesse im Rahmen der Forschung aufzudecken. Sagen die Teilnehmer, dass etwas interessant ist, weil sie es wirklich interessant finden? Oder antworten Sie aus einer Erwartungshaltung heraus? Denken sie z.B., dass man Kunst interessant finden muss?“
Ich kann mir gut vorstellen, dass das eine große Herausforderung ist. Dennoch hat die Wahrnehmungspsychologie Erkenntnisse gewonnen, die als nachgewiesen gelten, oder?
Claudia Muth: „Ja, natürlich. Menschen sind keine passiven Aufnahmegeräte. Wahrnehmung ist ein aktiver, man könnte gar sagen kreativer, Prozess und wird immer von verschiedenen Faktoren beeinflusst:
- Der Kontext – also in welcher Umgebung und Situation sehen wir etwas. Ein Farbeindruck ist beispielsweise immer abhängig von vielen Faktoren, etwa: Befindet sich eine graue Fläche in einer dunklen oder hellen Umgebung, welche Lichtsituation herrscht generell, schließen wir aus der Umgebung auf einen Schattenwurf?
- Die Aufmerksamkeit
Das kennt wahrscheinlich jeder: Wenn wir etwas suchen, sehen wir es auch. Wenn wir ein bestimmtes Auto kaufen wollen, sehen wir ganz viele davon. Wenn wir ein neues Hobby entdecken, sehen wir ganz viel, was mit diesem Hobby zu tun hat. Wahrnehmen heißt immer auch Auswählen und das geschieht auf der Basis unserer aktuellen Interessen und Ziele. - Das Vorwissen
Wahrnehmung wird auch durch Inhalte beeinflusst, mit denen wir unmittelbar zuvor konfrontiert wurden – dem „Vorwissen“, wie es dein Video deutlich macht.
- Der Wissensschatz
Unser gesamter Wissens- und Erfahrungsschatz beeinflusst unsere Wahrnehmung. Nehmen wir einmal das Titelbild dieses Beitrags: Wären Sie nicht vertraut mit dem Anblick einer Kuh, würden Sie hier auch nach langem Suchen lediglich schwarze Flecken sehen. Haben Sie aber einmal die Kuh entdeckt (vielleicht mit der Hilfe von Abbildung 3), wird es schwer, die schwarzen Flecken ohne die „Gestalt“ der Kuh zu sehen.
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Die Übung mit der jungen und der alten Frau habe ich vor vielen Jahren in einem Führungskräftetraining erlebt. Der einen Hälfte der Teilnehmer wurde vorab ein Bild einer jungen Frau gezeigt. Die andere Hälfte hat als Vorinformation das Bild der alten Frau gesehen. Es war beeindruckend, wie schwer es uns gefallen ist, in dem Kippbild das jeweils andere zu entdecken. In solchen Situationen wäre es hilfreich, statt auf dem Standpunkt zu beharren, neugierig zu sein, wie der andere zu seiner Sicht der Dinge kommt. Was sagt die Wahrnehmungspsychologie dazu?
Claudia Muth: „Das ist eine gute Übung! Ich denke auch, dass es in einem sicheren Umfeld leichter ist, die Überraschung zuzugeben und forschend zu erkunden, was der Grund für die Überraschung ist. Wahrnehmungstäuschungen sind hier bestimmt gut geeignet.“
Ja, eine Übungssituation ist eine relativ sichere Situation. Wir sind dadurch schneller in der Lage unseren Forschergeist zu aktivieren. Wir sind neugierig. Wir wollen herausfinden, was da los ist. Wenn die Situation aber eine ernste Diskussion im geschäftlichen Umfeld ist, dann fällt uns der Wechsel viel schwerer. Können wir uns in diesem Fall weiterentwickeln und lernen? Oder bleiben wir bei der automatischen Wahrnehmung?
Claudia Muth: „Einfache, grundlegende Wahrnehmungsprozesse können wir oft nicht überschreiben. Es wäre auch in vielen Fällen fatal. Nehmen wir z.B. diese Übung mit den zwei Schachteln: Wenn Du beide hochhebst, stellst Du ein bestimmtes Gewicht fest. Aus der Erfahrung schließt Du auf das Gewicht einer Schachtel und bist dann überrascht, dass sie viel schwerer ist als erwartet. Obwohl ich diese Übung kenne, spüre ich immer noch diese „Überraschung“. Kognitiv habe ich es erfasst. Ich weiß genau, was passiert und warum das so ist. Meine Wahrnehmung signalisiert dennoch die Überraschung und das ist gut so! Wenn wir solche Prozesse wie das Einschätzen von Gewicht anhand von Größe und Beschaffenheit in Frage stellen könnten, wäre es schwierig, unseren Alltag zu bewältigen. Wir könnten keine Treppen steigen. Wir könnten Nichts hochheben. Auch dass wir unwillkürlich Kontext und Erfahrungswissen miteinbeziehen, ermöglicht uns ja zuallererst die oft unvollständigen und eigentlich immer mehrdeutigen Reize zu interpretieren.“
Daraus könnte man schließen, dass ein Lernen nicht möglich ist. Für mich als Coach heißt das, wir müssen einfach immer wieder reflektieren und nach der ersten Überraschung gelassen reagieren und in einen anderen Modus wechseln, nämlich in den Modus des Fragenden: Was ist hier anders als ich es erwartet habe?
Claudia Muth: „Nun, ich bin kein Kommunikationsforscher, aber das kann ich mir vorstellen. Vielleicht können wir in der Kommunikation lernen, nach der Überraschung umzuschalten und die Situation neugierig zu betrachten.
In deinem Bereich sind, denke ich, zwei Punkte zentral: Einerseits das Bewusstsein über die eigene Täuschbarkeit und andererseits die Fähigkeit zum neuen Blick: Wir können durchaus Perspektiven wechseln, Probleme neu sehen, um zu kreativen Lösungen zu finden, wie Künstler das oft tun. Und das beginnt bei der Wahrnehmung!
In meiner Forschung habe ich beobachtet, dass wir Bilder, mit denen wir uns intensiver beschäftigen, auch interessanter finden. Ich könnte mir vorstellen, dass das auch in der Kommunikation eine Rolle spielt.
Teilnehmer in meinen Studien sollten beurteilen, wie interessant Bilder sind, ohne lange darüber nachzudenken. Dann baten wir sie mögliche positive und negative Interpretationen der Bilder zu finden und zu notieren. Anschließend sollten sie wieder bewerten, wie interessant die Bilder sind. Hier gab es einen deutlichen Unterschied. Das Interesse an den Bildern war bei der oberflächlichen Bewertung geringer als nach tiefer Beschäftigung. Und: Bilder, die viele verschiedene Interpretationen zuließen, wurden generell als interessanter bewertet als eindeutige Bilder. Ich denke, wir möchten aktiv Einsichten gewinnen und wenn es dafür ein Potential gibt, sind wir motiviert und interessiert.“
Oh, das findet man auch im Unternehmensalltag! Wenn alle Beteiligten gefragt werden und ihre Meinung beitragen können, dann ist das Interesse und damit die Unterstützung anschließend viel besser. Liebe Claudia, ich danke Dir für diese Einblicke in die Wahrnehmungspsychologie.
Dr. Claudia Muth ist Künstlerin und Dozentin für Wahrnehmungspsychologie an der Universität Bamberg und forscht zu den Themen Wahrnehmung und Ästhetik.
Claudia Muths Werdegang führt von der Kunst zur Wissenschaft. Ausgehend von Experimenten mit Zeichnung und Stop-Motion-Film beschäftigt sie sich mit Wahrnehmungsphänomenen. Nach ihrem Abschluss an der FH für Gestaltung Schwäbisch Hall absolvierte sie ein Masterstudium der Kognitionswissenschaften an den Universitäten Wien und Ljubljana. Schließlich promovierte sie im Fach Psychologie an der Universität Bamberg.
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